Mit dem Reimschema spielen

Ein Zweizeiler bietet nur eine eng begrenzte Zahl betonter Silben für den Reim. Das ändert sich bei einem längeren Gedicht natürlich nicht, wenn es durchgängig im Paarreim verfasst wird. Da ist es bei der Suche nach gleichklingenden Silben manchmal hilfreich, sich auf andere Reimformen einzulassen, was folgend an drei Vierzeilern deutlich werden soll:

Beispiel Kreuzreim (Reimschema: abab):

Tarnung

Will jemand ausgekocht erscheinen,

mit allen Wassern dir gewaschen,

kann er trotzdem, man soll’s nicht meinen,

durchaus als Dreckskerl überraschen.

Die Pointe dieses Vierzeilers liegt in der grotesken Spannung zwischen den Sprachbildern Dreckskerl einerseits und ausgekocht bzw. mit allen Wassern gewaschen andererseits. Auf den Kreuzreim habe ich zurückgegriffen, weil ich nach dem Paarreim

Will jemand ausgekocht erscheinen,

kann er trotzdem, man soll’s nicht meinen,

mit den mir passend erscheinenden Reimwörtern gewaschen/überraschen in den beiden Folgezeilen nicht weiter kam. Der Dreckskerl und überraschen musste als Knalleffekt natürlich in die Schlusszeile, und weil die anfänglich zweite Zeile problemlos auch als dritte einsetzbar war, konnte ich im Kreuzreim das Reimwort gewaschen auf überraschen in der zweiten Zeile nutzen.

Auch der Umarmende Reim (Reimschema abba) kann dazu verhelfen, Verse handlicher zu schmieden. Das möchte ich an einem Beispiel aufzeigen, bei dem ich zu schnell mit meiner Arbeit zufrieden war. Die folgende Einsicht habe ich (leider) so in Druck gegeben:

Verwechslung

Es ist, wie’s immer schon gewesen,

auch heut’ noch aktuell, mein Lieber:

Bildung kommt – statt nur vom Lesen –

erst vom Nachdenken darüber!

Um das Versmaß einzuhalten, habe ich auf Wortkürzungen zurückgreifen müssen (wie’s, heut’). Um das Versmaß eleganter zu füllen, hätte ich besser den Umarmenden Reim nutzen sollen,:

Es gilt auch heute noch mein Lieber,

was schon immer so gewesen,

Bildung kommt – statt nur vom Lesen –

erst vom Nachdenken darüber!

Abschließend noch ein Beispiel dafür, dass auch Mischformen ihren Reiz haben. Dafür habe ich ein Gedicht mit dem Reimschema ababcc ausgewählt.:

Ökonomisch

Ich halte es für produktiver,

lässig einfach nichts zu tun

und dabei in intensiver

Muße locker auszuruh’n,

statt wie all die Hektik-Affen

wild beschäftigt nichts zu schaffen!

Auf einen flüssig dahergesagten Kreuzreim mit einer erst eher irritierenden Behauptung (nichts tun = pro-duktiv?) folgt als Begründung eine im Gegensatz dazu im Paarreim viel strenger wirkende Argumentation. Aus dem anfangs skep-tischen Zuhören kann so die schmunzelnde Zustimmung erwachsen: „Ja, so gesehen stimmt das natürlich!“

Mit diesen drei Beispielen ist die Fülle möglicher Reim-schemata keineswegs erschöpft. In der Verslehre finden sich z. B.

   -  der Verschränkte Reim (abcabc),

   -  der Schweifreim (aabccb),

   -  der Haufenreim (aaaa) und sogar

   -  der Reim mit einer Waise (aba), bei dem eine Zeile
      gar keinen Reim trägt.

Dem Gestaltungswillen des Verseschmieds sind da keine Grenzen gesetzt (zumindest so lange, wie es ihm gelingt, einen Reim noch deutlich hörbar klingen zu lassen).

Und wer in seinem lyrischen Werk ein bestimmtes Reim-schema periodisch wiederholen kann, ist damit reif für die Meistergilde der Verseschmiede. Denn er spielt dann nicht nur mit dem Rhythmus der Sprache und lässt Reime klingen. Er beherrscht darüber hinaus auch die Kunst, Strophen mit wiederkehrendem Reimschema zu bauen. (Als Strophe wird die Anordnung einer bestimmten Anzahl von Verszeilen in einem Gedicht bezeichnet.)

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Auf dem Weg dorthin möchte ich mich zunächst einer besonders interessanten Strophenform zuwenden, die mich immer wieder neu fasziniert.

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