Darf man lyrische Versuche redigieren?

Aus dem Deutschunterricht habe ich noch gut im Gedächt-nis: Wenn ein Gedicht fertig ist, hat sein Verfasser zu schweigen. Um wie viel mehr sollte das auch für eine andere Person gelten! In die gleiche Richtung weist die Antwort ei-ner Autorin auf Änderungsvorschläge meinerseits: Hat nicht jeder seine eigene Art, lyrische Aussagen zu machen? Auch das ist sicherlich richtig. Aber beantwortet ist damit die Frage in der Überschrift auch nicht. Vielleicht hilft das folgende  Beispiel aus meiner Mitarbeit in der Füllhorn[1]-Redaktion ein wenig weiter.

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[1] Die neueste Ausgabe dieses Magazins für Soester Bürgerinnen und Bürger und viele vergangene Jahrgänge sind hier einsehbar.

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Unser Redaktionsteam sieht sich immer dann mit der einlei-tenden Frage konfrontiert, wenn Gedichte mit der Bitte ein-gereicht werden, sie zu veröffentlichen. Nun sind Gedichte von Natur aus Texte, die nicht nur mit poetischem Anspruch verfasst, sondern auch gelesen (bzw. gehört) werden wollen. Und es geht bei der Einschätzung ihrer Qualität weniger um Fehler in der Rechtschreibung oder um fehlende Satzzei-chen (was bei lyrischen Texten ja durchaus eine bewusste Setzung sein kann), sondern darum, ob ein Gedicht auch handwerklich gut genug gelungen ist, um es guten Gewis-sens ins Füllhorn aufzunehmen.

Da wird dann deutlich, dass die Frage so, wie sie in der Überschrift daherkommt, nicht richtig gestellt ist. Wenn wir den Soestern ein lesenswertes Magazin mit entsprechender Qualität in den Beiträgen anbieten wollen, dann muss die Frage so lauten: Sollen wir Lyrik redigieren, wenn sie etwas holpernd daherkommt – oder müssen wir die Aufnahme ins Heft schlicht und einfach aus qualitativen Gründen ableh-nen?

Um die Beantwortung dieser Frage können wir uns nicht drücken – da reicht es nicht, nur unterschiedlicher Meinung zu sein, wie es bei der Frage in der Überschrift möglich wä-re. Es muss eine Entscheidung getroffen werden, die von al-len Redaktionsmitgliedern getragen wird. Und die geht dahin, dass wir den Verfassern bei Gedichten, die eine beachtens-werte Aussage haben, aber in der Gestaltung der Verszeilen verbesserungswürdig sind, Änderungsvorschläge machen.

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Was das heißt, möchten wir an einem bezeichnenden Beispiel zeigen:

Als uns das Gedicht Mutter Erde (s. weiter unten) eingereicht wurde, fanden wir die Aussageabsicht nachvollziehbar und als Grundidee für eine lyrische Auseinandersetzung reizvoll. Aber es war uns auch bewusst, das geht nicht hoppla hopp! Eine Änderung forderte die nächste, erste metrische Korrek-turen machten weitere Veränderungen der Textgestalt not-wendig, denn es waren ja nicht nur

-          das stellenweise unharmonisch gefüllte Versmaß,

-          einige nicht gerade glücklich gewählte Vokabeln,

-          der nicht immer gefällige Satzbau und

-          die beiden überflüssig moralisierenden Schlusszeilen,

die bei dieser lyrischen Verdichtung der Thematik Bauch-schmerzen bereiten. Es stimmte ja auch im inhaltlichen Verlauf so einiges nicht. Eine Wende, wie sie zum Schluss gefordert wird, haben die Naturkatastrophen doch noch gar nicht gebracht, und wie passt das "manchmal" Zurückschla-gen der Natur in die Logik (s. u.)? Da erschien uns als in-haltliche Abfolge eher diese stimmig:

Die Geduld der Natur mit dem Treiben der Menschen wurde überstrapaziert, sie reagiert mit ersten Anzeichen, und wenn der Mensch sein verfehltes "Untertan-Machen" der Welt nicht beendet und sich nicht in die Schöpfung ein-ordnet, wird es zur Katastrophe kommen.

Es gab also einiges zu tun, um der guten Idee eine stimmige lyrische und inhaltliche Form zu geben. Der Wille, die nicht zu beanstandenden Reime zu erhalten, erschwerte das Vor-haben natürlich, machte die Überarbeitung allerdings auch besonders reizvoll. Und es ergab sich durch die Streichung der beiden letzten Zeilen sogar eine (vielleicht vom Verfasser gar nicht gesehene) Strophenform, die dem letzten Paarreim als Zusammenschau ein besonderes Gewicht verleiht.

Die Gegenüberstellung des eingereichten Originals (1) mit der Bearbeitung (2) zeigt penibel auf, welche rhythmischen Veränderungen (in 1 gelb hinterlegt) und welche Abweichun-gen im Wortfeld (rote Schrift) vorgenommen werden sollten:

Eingereichtes Gedicht (1):

 

Mutter Erde

.Mutter Erde, geschundener Planet,

 .wenige fragen, wie es Dir geht.

Deine Mahnungen ließen uns kalt.

 Wir vernichteten Meere, Tiere und Wald.

Geduldig warst Du seit Urbeginn,

nahmst scheinbar unsere Sünden hin.

 Von Macht und Profitgier besessen

 haben wir Deine Schönheit vergessen.

.Einmal geht jede Geduld zu Ende,

Naturkatastrophen brachten die Wende.

 Vernunft wäre für alle ein großes Glück,

denn die Natur schlägt manchmal zurück,

„Macht euch die Erde untertan!“

.sah der Schöpfer nicht als Freibrief an.

.Lasst uns neue Wege gehn,

mit allen Sinnen zu verstehn,

dass wir ein kleines Rädchen nur

im ewigen Kreislauf der Natur.

Diese Erkenntnis ist angebracht,

weil sie alle Geschöpfe glücklicher macht.

 

Unser Vorschlag (2):

 

Mutter Erde

Oh, Mutter Erde, gequälter Planet,

zu wenige fragen, wie es Dir geht.

All deine Mahnung ließ uns kalt,

es leiden Meere, Tiere, Wald.

Warst gütig uns seit Urbeginn,

nahmst lange unsre Sünden hin.

Und wir, von Macht und Gier besessen,

haben unsern Platz vergessen.

Doch einmal geht Geduld zu Ende!

 Noch wär’ es Zeit für eine Wende

und für Vernunft zu unserm Glück,

noch schlägt Natur nicht voll zurück!

 Gott sah es nicht als Freibrief an:

Macht euch die Erde untertan!

Drum lasst uns neue Wege geh’n,

lasst endlich Schöpfung uns versteh’n!

Wir sind ein kleines Rädchen nur

im ew’gen Kreislauf der Natur.

Nachtrag:

Schade finde ich es allerdings, dass der Verfasser diesen Änderungsvorschlägen nicht zugestimmt hat. Das Gedicht sei schon einmal als gelungen angenommen worden und in einer Anthologie erschienen, also bereits in der Deutschen Nationalbibliothek in der vorgelegten Form verzeichnet. Was immer das auch heißen und beweisen mag.

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